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Published in: KUNST UND LITERATUR, N2 1988

Gesprach mit Faradsh Karajew [1]

Welche Schriftsteller und Lyriker stehen Ihnen besonders nahe?

Das ist schwer einzugrenzen, weil es hierbei auch immer Veränderungen gibt. Leider habe ich einen solchen Dichter wie den Spaniel – Jüan Ramon Jimenez erst sehr spät für mich entdeckt. Er ist für mich einer der wichtigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts überhaupt. Seine Dichtung liegt uns in hervorragenden Übersetzungen von Anatoli Geleskul vor. Jimenez’ Lyrik birgt eine ganze Welt – mit ihren Vorstellungen, Leidenschaften, Fragen um Leben und Tod –, und diese Welt steht mir sehr nahe. Ich habe mehrere Projekte zur Vertonung seiner Dichtung, darunter zwei Liederzyklen und eine Kantate. Wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, daß man Texte immer in der Originalsprache vertonen muß, würde ich sie in der sehr guten Übersetzung Geleskuls komponieren. Aber ich habe die spanischen Originaltexte, und ich bin der Meinung, daß ihr Sinn in Verbindung mit Musik verständlich wird.


Haben Sie es sich zum Prinzip gemacht, Texte in der Originalsprache zu verwenden?

Nicht von vornherein. Aber es hat sich dann so ergeben. Sehen Sie, die türkische Sprache zum Beispiel ist dem Aserbaidshanischen sehr ähnlich. Ich kann Hikmets Dichtung nahezu ohne Wörterbuch lesen. Und obwohl es auch von Hikmets Werken hervorragende Übersetzungen gibt, ziehe ich in diesem Falle doch das Original vor.


Im Beitrag von Oleg Felser und Alla Bretanizkaja wird gesagt, daß Sie „fremde” Musik mit verschiedener dramaturgischer Funktion in die eigene einbeziehen. Wie stehen Sie dazu?

Ich suche immer die natürlichste kompositorische Ausgangsposition, die natürlichste Ausdrucksform, die natürlichste Betrachtungsweise dessen, worüber ich mich äußern will. Wenn ich nun intuitiv zu einem bestimmten Gestaltungsmittel greife, und seien es Geräusche des Meeres, Jazzklänge oder auch das Motiv eines. Türgongs, dann lege ich mir keine Rechenschaft darüber ab, warum ich es tue. Ich benutze einfach, was mir am geeignetsten erscheint, um meine subjektive Idee zum Ausdruck zu bringen. Solche äußermusikalischen oder aus fremder Musik stammenden Klänge erfüllen, gar nicht unbedingt eine sehr tiefgründige dramaturgische Funktion. Ich verwende sie vielmehr als ganz normale Komponenten meiner Komposition, als Strukturelement – so wie eine melodische Wendung, einen Rhythmus, eine bestimmte Harmonie oder Klangfarbe.


Fürchten Sie nicht, daß man Ihnen einen Mangel an eigener Phantasie nachsagen könnte?

Diese Gefahr besteht natürlich. Aber hier halte ich es mit dem Sprichwort: „Wer nichts riskiert, kann nichts gewinnen.” Wenn man bei der künstlerischen Arbeit bestimmte Ergebnisse erzielen will, muß man auch den Mut um Experiment, zum Risiko haben.


Sie haben Ihre Serenade für kleines Sinfonieorchester „1791” im ]ahre 1983 abgeschlossen, der Titel verweist auf das Sterbejahr Mozarts, dem bereits eine andere Arbeit – mit dem umfangreichen Titel „Ich habe mich von Mozart auf der Karlsbrücke im Prag verabschiedet” gewidmet war.

Diese Komposition ist gewissermäßen eine Vorarbeit zur Orchcsterserenade „179l”. Sie entstand 1982, zwei Monate nach dem Tod meines Vaters. Ich hatte aus Prag einen Kompositionsauftrag erhalten, und meine Verfassung war nicht die beste. Um mein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden und mich überhaupt wieder konzentrieren und arbeiten zu können, spielte ich in dieser Zeit sehr viel Musik am Klavier durch. Zu diesen Werken gehörte auch Mozarts „Requiem”. Irgendwie ergaben sich dann solche Assoziationen: ein Kompositionsauftrag aus Prag. Mozart war gern in Prag, er hatte dort Erfolg, er möchte diese Stadt. Die Idee fügte sich zu einem Ganzen. Auch für den Titel gab es Anregungen, aber ich gebe zu, er ist nicht sehr originell.


Viele Ihrer Werke sind noch nicht einmal uraufgeführt worden., Neben einigen unglücklichen Zufällen könnte das auch an der ausgefallenen Besetzung einiger Ihrer Kompositionen liegen, so zum Beispiel, wenn Sie wie in „Journey to love” drei Klaviere vorschreiben?

Natürlich mag die Besetzung bisweilen hinderlich sein. Aber ich sage mir auch: Daß es mit einer Aufführung schwierig werden wird, weiß ich ohnehin,: also schreibe ich. gleich so, wie ich wirklich möchte. Und wenn ich sehe, daß sich eine Aufführung nur unter ungünstigen Bedingungen ermöglichen läßt, verzichte ich lieber darauf und warte geduldig auf eine bessere Gelegenheit.


Ich habe in mehreren Beiträgen sowjetischer Autoren gelesen, daß Ihre Musik Beziehungen zur aserbaidsbanischen Volksmusiktradition des Mugam auf weist. Stimmt das?

Der Mugam ist ja ein sehr vieldeutiger Begriff: Er kann eine musikalische Gattung bezeichnen, er kann einen konkreten Formverlauf bezeichnen, und er ist der Name einer Tonart. Der Mugam ist aber auch eine bestimmte Art und Weise des musikalischen Denkens. Und sicher muß man ihn, bezogen auf meine Musik, in dieser Richtung verstehen.


Betrifft das, nicht auch beispielsweise die Zeitliche Ausdehnung vor altem Ihrer letzten Werke?

Ja, gerade hier, mag es einen Zusammenhang geben. Der Mugam ist, obwohl er eine ausgedehnte Form ist, zugleich sehr konzentriert. Man kann natürlich lange reden und nichts sagen, aber im Mugam wird in jedem Moment sehr viel gesagt; jeder Moment enthält neue musikalische Informationen. Und doch handelt es sich um eine Musik, die sich nur langsam, allmählich entfaltet. Das wird einem wahrscheinlich in die Wiege gelegt. Wenn man also meine Musik unter musikwissenschaftlichem Aspekt analysieren würde, fände man sicher keine tonartlichen Übereinstimmungen, keine Intonationsbezichungen. Nach meiner Ansicht hat sich Frangis Ali-sade zu diesen Fragen in der Juli-Nummer der Zeitschrift „Sowjetskaja musyka” sehr richtig und treffend geäußert.


Welche Wirkung auf den Hörer erboffen Sie sich von Ihrer Musik?

Ideal wäre natürlich, daß sie, irgendeine Resonanz findet, daß der Hörer seine Gedanken in die gleiche Richtung lenkt, in die sie zuvor der Komponist gelenkt hat, daß seine Gefühle denen des Komponisten ähneln, daß er vom Komponisten gleichsam hypnotisiert, auf sich selbst zurückgeführt und gezwungen wird, in gleicher Weise wie der Komponist nachzudenken. Allerdings gelingt das sehr selten.


Sie sagen „hypnotisiert”. Haben Sie keine Bedenken, daß der Hörer selbst zu passiv bleibt?

Nein, überhaupt nicht. Wissen Sie, jeder Begriff, jede philosophische Betrachtungsweise hat inzwischen ihre Konturen verändert, und was gestern noch ungünstig oder gar gefährlich schien, hat sich heute als absolut nützlich, einfach und plausibel erwiesen.


Wenn sie der Musik eine bestimmte Suggestivkraft einräumen, dann wäre es interessant Zu erfahren, in welcher Weise Sie sich eine Beeinflussung des Hörers wünschen?

Ich gehe davon aus, daß der Komponist in sein Werk das Allerbeste einbringt: das Besondere seines individuellen und seines nationalen Charakters, seine subjektiven Ansichten, sein Verhältnis zur Gesellschaft, zur Kunst, das Beste dessen, was er fühlt und denkt – eine Art Bekenntnis zum Guten und zu sich selbst, vielleicht auch eine Offenbarung seiner selbst. Wenn er dies tut, dann möchte ich, vereinfacht gesagt, daß sich etwas von diesem Guten auch auf den Hörer überträgt, etwas von der in der Musik zum Ausdruck kommenden menschlichen Güte, von der moralischen Integrität, der Reinheit der Gedanken... Ich möchte, daß die Gefühle und Gedanken des Hörers durch die Musik „gereinigt”, geläutert werden.


Zur Zeit wird viel über denBegriff der Schönheit und des Schönen in der Musik gestritten. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Ich glaube, daß man zwischen krassiwost – Schönheit als visuell oder akustisch angenehmem Äußeren – und krassota – der inneren Schönheit, der Lauterkeit eines Gefühls, einer Haltung – unterscheiden muß. Ich sehe Schönheit in der Realisierung einer erhabenen Idee, eines Ideals, selbst dann, wenn die Realisierung als furchtbar oder tragisch erscheint. Es geht hier schlechthin um die Verkörperung des Guten.


Haben Sie diese Kategorie des Schönen übertragen in klangliche Schönheit in Ihren Werken zu realisieren versucht? Simpel gesagt: das „Rauschen des Meeres” in einer eingeblendeten Tonbandaufnahme als Symbol für die Schönheit der Natur?

Nein, das würde ich nicht sagen. Hier geht es um etwas anderes. Diese Tonbandeinspielung ist einfach eine Komponente der kompositorischen Struktur, nicht mehr und nicht eniger.

Birgt die Vieldeutigkeit, die Mißverständlichkeit gerade solcher musikalischer Zeichen nicht Gefahren für das Verständnis Ihrer Musik?

Nein. Ich habe nichts dagegen, wenn die Hörer meine Musik sehr unterschiedlich aufnehmen. Natürlich wünsche ich mir, daß der Zuhörer gut vorgebildet ist, daß sich bei ihm mit der Musik, die er hört, auch bestimmte Gedanken, bestimmte Assoziationen einstellen. Wenn dies nicht der Fall wäre, würden mir auch keine konkreten Klänge helfen.


Welche Komponisten waren für Sie während Ihrer künstlerischen Entwicklung besonders wichtig?

Wir alle durchlaufen eine bis heute andauernde Zeit verschiedenartigster Einflüsse, das ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Aber ich würde schon sagen, daß die Werke von Strawinsky und Webern für mich nach wie vor eine besondere Bedeutung haben.


1988 findet in Baku das zweite Kara Karajew-Festival zeitgenössischer Musik statt. Wann wurde es ins Leben gerufen, und welches Anliegen verbindet, sich mit diesem neuen Musikfest?

Das erste Festival fand im März 1986 in Baku unter dem Motto „Musik des 20. Jahrhunderts“ statt. Veranstalter waren das Ministerium für Kultur der Aserbaidshanischen SSR und die Staatliche Philharmonie der Aserbaidshanischan SSR. Er erklangen sinfonische Werke und Kammermusik von Komponisten aus der UdSSR sowie aus dem internationalen Musikschaffen dieses Jahrhunderts, so unter anderem von Schostakowitsch, Kara Karajew, Schtschedrin, Gubaidulina, Silwestrow, Schönberg, Webern, Strawinsky, Ives, Messiaen, Lutoslawski, Cage, Crumb und vielen anderen. Als Interpreten wirkten namhafte sowjetische Solisten und Klangkörper mit, beispielsweise das Staatliche Aserbaidshanische Sinfonieorchester unter Ra'uf Abdullajew, einem der Initiatoren dieses Festivals.

Im Musikleben unserer Republik und unserer Hauptstadt hatte es in, den letzten Jahren eine merkliche Stagnation gegeben. Das Sinfonieorcheser und die Philharmonie waren nicht sehr aktiv, es fanden kaum besondere Konzerte statt. Als jüngere Künstler die Leitung dieser Einrichtung übernahmen, verband sich damit auch eine Belebung des musikkulturellen Alltags. Wir glaubten, daß ein Festival, das speziell der zeitgenössischen Musik gewidmet ist, Interpreten wie Hörer aktivieren kennte. Dias Festival soll alle zwei Jahre stattfinden, wir möchten es gründlich vorbereiten. Das ist schon deshalb nötig, weil es ja vor allem um die Propagierung neuer Werke unserer Komponisten, aber auch „klassischer” Werke des 20. Jahrhunderts, die bisher bei uns gar nicht oder nur selten erklungen sind, geht.


Sie haben zusammen mit Ihrem Vater die Musik zu Konrad Wolfs Film „Goya” geschrieben. Wann war das?

Das war gleich zu Anfang der siebziger Jahre, 1970 oder 1971. Wir waren in Babelsberg und sind dort mit Konrad Wolf zusammengetroffen. Er war ein großer, wirklicher Künstler und außerdem ein wunderbarer, gütiger und sehr vielseitig interessierter Mensch.

Abgesehen davon, daß die Zusammenarbeit für uns überaus nützlich und interessant war, war es rein menschlich sehr angenehm, mit ihm zu tun zu haben. Er war ein interessanter Gesprächspartner, weil er sehr vieles wußte, sei es auf dem Gebiet der Literatur, der Musik oder der Kunstgeschichte. Für mich brachten die Begegnungen mit ihm unvergeßliche Abende. Die Arbeit selbst war sehr konzentriert, es herrschte eine äußerst angenehme Atmosphäre.


Was haben Sie nach Ihrer Kammermusik „…a Crumb of music for George Crumb” komponiert?

Nach 1985 habe ich mehrere Bearbeitungen vorhandener Werke vorgenommen, jetzt beschäftige ich mich mit einem großen sinfonischen Werk: „Fatalite”. Der Titel hat eine Doppelbedeutung: Im 19. Jahrhundert lebte der große aserbaidshanische Dichter, Aufklärer und Philosoph Mirza Fatali Achundow. Er ist der Begründer der aserbaidshanischen Dramatik. Sein Schicksal hat der aserbaidshanische Schriftsteller Tschingis Hüssejnow, in seinem Roman „Fatali oder Die betrogenen Sterne” [2] gestaltet. Unter dem Eindruck dieses Romans entstand die Komposition, deren Titel sowohl auf die französische Bedeutung des Wortes als auch auf den Namen Achundows anspielt. Der Roman ist übrigens in drei Kapitel eingeteilt, die Überschriften einer Programmsinfonie sein könnten. Der erste Teil heißt: „Nicht enden wollende Krise der Illusionen”, der zweite „Ein Hoffnungsfunke” und der dritte „Der Zusammenbruch”. Das ist wie das Programm einer Sinfonie!




  1. Das Gespräch mit dem Komponisten führte Hannelore Gerlach am 24.9.87 in Moskau. – d. Red. 
  2. Tschingis Hüssejnows Roman „Fatali oder Die betrogenen Sterne” erschien 1986 im Verlag Volk und Welt. – d. Red. 


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